Aus der Presse

Kulturportal Märkische Allgemeine -der alte Fritz lässt Blicken
Orgel des Monats August

Neuzelle - St. Marien (kath.) 

 

Wer heute nach unerschlossenen, kunsthistorischen Schätzen zu suchen gedenkt, wird seine Schritte am allerwenigsten in längst betretene Hallen lenken, es sei denn, er weiß, daß sich die Geschichte mitten im dichten Gedränge zuweilen Orte geschaffen hat, deren Gehäuse und Bank der Orgel restauriert durch Kurt KallenseeEntlegenheit an die einer Oase erinnern kann.
Oder sollte es eine Übertreibung sein, im Zeitalter der Weltraumflüge so die Wiederentdeckung einer ganzen Orgel einzuleiten, welche sozusagen
gleich nebenan, im Turmzimmer einer
bedeutenden Kirche Mitteleuropas und keinem früheren als dem Jahr 1966 geschah?
Vor rund 250 Jahren sicher ein unerhebliches Mittel zum gottesdienstlichen Zweck, kommt das Werklein heute als einer der letzten "lebenden" Vertreter der "Portativepoche" einer kleinen Sensation gleich, zumal hier in der Gestalt einer merkwürdigen "Zwittererscheinung", deren eine Hälfte (Positivfunktion) durch den maßgeschneiderten Tisch und den Tonumfang, die andere (Portativfunktion) durch Trageholme und eine Gitterrückwand zur zusätzlichen Klangabstrahlung gekennzeichnet ist.
Im Blick auf seine katholische Wiege und eine zum ehemaligen Kloster gehörige Kanzel auf eisernen Rädern ist der Gedanke einer "Prozessionsorgel" kaum von der Hand zu weisen.
Schriftzüge im vorderen der beiden als Gehäusedecke dienenden Keilbälgchen, die denen im ganzen Positiv (Zahlen und Tonbuchstaben) gleichen, vervollständigen die Inschrift auf ihre Weise: "orgelbauer und instrumentenmacher geselle MICHAEL HEINITZ alß diese Belge hat ge(macht)." Sein Name ist bisher ausschließlich an diese Orgel und ein vor wenigen Jahren wiederentdecktes bundfreies (!) Clavichord gebunden - entweder, weil er sonst nur mit Reparaturen, oder als Angestellter einer anderen Werkstatt beschäftigt war?
Gewiß ist, daß Neuzelle um die Jahrhundertwende (17./18. Jh.) mannigfache Verbindungen zu Görlitzer Künstlern unterhielt, deren zwei die Orgelbauer EUGEN CASPARINI und DAVID DECKER gewesen sind. Beide bauten kurz hintereinander Orgeln in der katholischen Stiftskirche (St. Marien).
Der Konzeption nach muß das Werk also nicht zwangsläufig auf Heinitz zurückgeführt werden, denn ähnlich der Praxis großer "Malstätten" des Barock mußte auch im Orgelbau der Kopf der Idee nicht dem gleichen Körper angehören wie die Hände des Ausführenden.
Wenden wir uns unmittelbar an das Endprodukt, so fällt uns zunächst dessen Niedlichkeit ins Auge (ohne Tisch: Höhe 97 cm, B 106 cm, T 68 cm), die - gemessen am Inhalt - jedem heutigen Mini-Rekordversuch standzuhalten vermag. Zu diesem gesellt sich ein weiteres Indiz für den Portativzweck in Form von leichtem Holz an einer Stelle, wo man in der Regel gewichtigeres anzutreffen gewohnt ist - der Windlade (Linde). Sie liegt auf dem Unterboden des Gehäuses, welches - einschließlich der großen Holzpfeifen - aus Fichte gefertigt ist. Das Raumproblem ward auf zweierlei Weise gelöst, erstens durch die horizontale Anordnung von C, D und Dis des Grobgedackts und zweitens durch eine besondere Art der Kröpfung.
Erwähnenswert sind auch die langen geraden Labienformen der Zinnpfeifen und die hohe Legierung (Prinzipal 2’ ca. 70 Zinn). Der Wind gelangt über einen Querkanal mit den Fangventilen und einem wei-teren Steigkanal in die Windlade und erzeugt einen Druck von 65 mm/Ws. Die Stimmung steht 1/4 unter dem heutigen Kammerton. Für mein Empfinden ganz und gar nicht unerträglich - die tadellos angelegte mitteltönige Stimmung.
Trotz der Prinzipal 2’-Basis (z.T. im Prospekt) läßt die Klangfülle nichts zu wün-schen übrig, so daß auch außerhalb eines Gebäudes erschallende Gesänge damit mühelos getragen werden können. Jedes Einzelregister bildet eine charaktervolle Individualität und somit - ausgenommen die Mixtur - eine autonome Einsatzmöglichkeit. Das leicht nach hinten geneigte Manual kommt der Hand des stehenden Organisten entgegen, wovon man sich auf den Podien der elektronischen Musik heute weithin überzeugen kann.
Zum wiederholten Male vermochten mir naturhölzerne Untertasten davon Gewißheit zu geben, daß es nicht gleichgültig ist, mit welchem Material der Tastsinn eines Instrumentalisten in Berührung kommt. Zumindest für meine Empfindung ist die wohltuende Verschmelzung der Finger mit organischen Stoffen eine wahrnehmbare Tatsache, die sich in einer psychischen Kategorie von Wärme niederschlägt. Es wäre zu untersuchen, inwieweit diese, viele Kinder unserer Zeit (nach wie vor) sicher kompromittierende Behauptung, auf naturwissenschaftlicher Ebene eine Entsprechung hat.
In der Seitenkapelle der barocken Stiftskirche hat das inzwischen restaurierte Kleinod nun eine ideale optische und akustische Heimat gefunden.

Die Wiederherstellung erfolgte in drei Etappen:
1973 (Gehäuse und Bank) von KURT KALLENSEE (Potsdam),

1975 (Farbfassung) von HEINZ SEIFERT (Potsdam),
1976 (Orgelwerk) Fa. SCHUKE (Potsdam).